Page 635 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Zur Theorie des Bewusstseinsumfanges und seiner Messung.  623

    können.   Denn gerade das Sehfeld der äußeren Wahrnehmung scheint
    insbesondere bei Helladaption jederzeit im Ganzen irgendwie bewusst
    zu  sein, und drängt  sich diese Anschauung schon durch den ein-
    fachsten Vergleich  auf,  der  sich  in  der  reflectiven  Betrachtung
     der continuirlich sich folgenden Momente der Gesichtswahrnehmung
     ergibt.  Dies würde nun wirklich  ganz  allgemein  zur Erwartung
    berechtigen  ,  dass innerhalb  der Gesichtswahmehmung thatsächlich
    alle erkannten objectiven Variationen zugleich als Verschiedenheiten
     gegenüber der vorigen Ausfüllung aufgefasst werden können, voraus-
     gesetzt, dass nun auch die Beziehung der beiden Versuchs-
     objecte aufeinander eine hinreichend enge, also die Zwischen-
     zeit möglichst gering  ist.  Denn auch diese wird natürlich wegen der
     allgemeinen Abhängigkeit der Erinnnerung von dem Bewusstseins-
     grade bei den geringsten Klarheitsgraden zur Entstehung des Ver-
     schiedenheitsbewusstseins im vollsten Sinne des "Wortes von besonderer
     Wichtigkeit sein.
        Außer dem nämlichen Sinnesgebiet wird aber nun wohl auch jede
     andere Sinnessphäre irgendwie an dem Gesammtumfange des Bewusst-
     seins betheiligt sein, und es fragt sich, ob die sog. ganz neuen Reize
     nicht  einfach  als  Unterschiedsschwellen  für  diese  Bewusstseins-
     vertretung der augenblickhch wenig beachteten Sinnesgebiete zu be-
     trachten sind, welche natürlich relativ wenig klar und von zahlreichen
     Verschmelzungen   (im Sinne  der Herbart'schen Terminologie)  in
     ihrem Specialumfange eingeengt sind. Es wäre dann ganz gleichgültig,
     welcher im Urcomplex noch nicht vorhandene Reiz nebenbei momentan
     zur Einwirkung gelangte; es würde dann nicht etwa mit der Schwelle
     eines jeden neuen Reizes ein selbständig zu berücksichtigender Werth
     abgeleitet, der über den Umfang   des unmittelbar vorhergehenden
     Bewusstseinsmomentes in besonderer Weise hinauswiese, im Gegensatz
     zu den Werthen für die einzelnen Bewusstseinsgrade der Elemente
     des Urcomplexes.     Vielmehr würden jederzeit doch nur die Klar-
     heitsgrade der thatsächHch bereits im Bewusstsein vorhandenen Ver-
     tretungen der anderen Vorstellungsgebiete gemessen, mit denen man
     augenblicklich nicht besonders beschäftigt  ist, nur eben vielleicht für
     ein und das nämliche Element so und so oft.         Denn es ent-
                                             Unterschiedsschwellen des
     spricht nur der Auffindung verschiedener
     nämlichen bereits bewussten Inhaltes sozusagen nach verschie-
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