Page 639 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Zur Theorie des Bewusstseinsumfanges und seiner Messung.
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nach der Methode der richtigen und falschen Fälle (Berechnung der
Schwelle nach G. E. Müller). Am ersten Tage leitete er unter ge-
wöhnlicher Concentration der Aufmerksamkeit die Normalschwelle
zu 1,68 mm ab, während er am zweiten Tage seine Aufmerksamkeit
dadurch ablenkte, dass er gleichzeitig Musikstücke in Gedanken
dui-chging. Thatsächhch fand er bei dieser Ablenkung auch, dass
eine Erhöhung der Schwelle auf 3,88 mm emtrati).
So untersuchte Berteis auf Anregung Kraepelin's, der vor
allem diesen Bestimmungen der Ablenkbarke it wegen ihrer Be-
deutung für die psychiatrische Diagnose großes Interesse entgegen-
bringt 2), die Erhöhung der Reizschwelle für Lichtempfindung nach kurz
vorhergehenden andersartigen Erregungen mit Variation der Zwischen-
zeit und Reizdauer 3). Besonders aber hat in neuester Zeit auch G.
Heymans in dem 2. Theil seiner »Untersuchungen über psychische
Hemmung« (in der 1. Mittheilung werden nur einfache Unterschieds-
schwellen für verschiedene Reizintensitäten und Variationsrichtungen
bestimmt und wird damit zur psychologischen Deutung des Web er-
sehen Gesetzes in dem vorhin genannten Sinne nichts Neues hinzufügt)
Reizschwellen unter gleichzeitiger Einwirkung benachbarter Reize (bei
Dunkeladaptation) in ihrer Abhängigkeit von der Intensität dieser Hem-
mungsreize zu bestimmen versucht und für Tast- und Lichtreize eine gute
Proportionalität der Erhöhung gefunden*). Im Gegensatz hierzu sind
1) Auch die Umkehrung, dass die Erkennung feinerer Unterschiede eine
höhere psychische Arbeit erfordere, suchte Boas in der Weise abzuleiten, dass
er die mindeste Zeitdauer der Vergleichung bis zur Urtheilsabgabe
für verschieden große Unterschiede besthnmte, was er ebenfalls als gelungen be-
richtet. Dieser Gesichtspunkt kommt für unsere Versuche höchstens insofern in
Betracht, als hier beim Tachistoskop besonders die Darbietung der Vergleichsreize
selbst in den constantesten Zeitverhältnissen erfolgte, was wenigstens bei optisch-
psychophysischen Versuchen der gewöhnlichen Art nirgends exacter, eher weniger
genau eingehalten zu werden pflegt. Die Dauer bis zur Abgabe des UrtheUes
braucht natürlich neben der Schwellenbestimmung bei einmal eingeführter Con-
stanz nicht besonders ins Auge gefasst zu werden.
2) Kraepelin, Der psychologische Versuch in der Psychiatrie. Psycholog.
Arbeiten 1, S. 1. 1896.
3) B e r t e 1 s , Versuche über die Ablenkung der Aufmerksamkeit. Dissertation.
Dorpat 1889.
4) G.Heyman s, Untersuchungen über psychische Hemmung, I.Theil,Zeitschr.
für Psychologie, XXI, S. 321 flf. u. XXVI, S. 305 ff.
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